1955 - das Unglück
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Vor 50 Jahren geschah bei den 24 Stunden von Le Mans das
größte Unglück der Motorsportgeschichte - mehr als 80
Menschen kamen ums Leben.
Die 23. Auflage des « Grand Prix d'Endurance »
startet am 11. Juni 1955 um 16 Uhr. An der Spitze ist die Sache
bald sehr klar: das Match heißt Mercedes-Benz gegen Jaguar. Die
Nachkriegs-Silberpfeile waren bereits 1952 mit dem 300SL in Le Mans
erfolgreich. Der wirkliche Star dieses Jahres war aber ein Franzose
namens Pierre Bouillin. Vom Wunsch besessen, dieses Rennen einmal zu
gewinnen, versucht er mit seinem Talbot eine Alleinfahrt über die
gesamte Distanz. Nach 22 Stunden führt er, dann verschaltet er
sich aus Müdigkeit, der Traum ist aus. Drei Jahre später
setzt Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer ihn für Le Mans in einen
300SLR. Zur Ehre seines Onkels, des Rennsportpioniers Alfred Velghe,
tritt Bouillin unter dessen altem Alias an: Levegh.
Mercedes-Benz fährt um die
Sportwagenweltmeisterschaft, die erfolgreiche britische Nachkriegsmarke
Jaguar hat sich dagegen völlig auf Le Mans konzentriert und baut
speziell für diese Strecke ihr vielleicht berühmtestes
Rennauto, den D-Type. Man sieht die 24 Stunden quasi als Heimspiel.
Silber gegen British Racing Green, Deutschland gegen
Großbritannien - ein Jahrzehnt nach Kriegsende immer noch eine
grimmige Auseinandersetzung, vor allem für den Starfahrer des
Jaguar-Teams, Mike Hawthorn. Er will die deutschen Autos partout hinter
sich lassen und legt ein schnelles Tempo vor. Mercedes-Startfahrer Juan
Manuel Fangio reagiert entsprechend: die Rundenzeiten fallen, die
Rundenrekorde auch. Dahinter fällt Levegh nach gutem Start
zurück, kämpft bereits gegen die Überrundung. Mit den
Spitzenfahrern kann er nicht mithalten, aber für den
Fünfzigjährigen ist dies die wahrscheinlich letzte Chance,
seinen Traum vom Sieg doch noch zu verwirklichen, deshalb darf er den
Anschluß nicht verlieren. Das Publikum ist fasziniert: einen solchen Fight um Sekunden ist man am Beginn des Langstreckenklassikers nicht gewöhnt, normalerweise beruhigen sich die Dinge nach den ersten 30 Minuten, und man läßt den Abend gemütlich ausklingen - aber heute geht niemand nach Hause, alle verfolgen gebannt des Prestigeduell der zwei Formel-1-Stars an der Spitze, der besten Fahrer ihrer Zeit. |
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Nach über zwei Stunden sind die mehr
als 200l Treibstoff in den Autos großteils aufgebraucht, es wird
Zeit für die Tankstops. Hawthorn hat noch nicht genug: In seinem
Eifer, den Fangio-Mercedes (der immer noch nur ein paar Sekunden
entfernt ist) hinter sich zu halten, hat der Brite bereits einige
Signale zum Boxenhalt übersehen oder ignoriert. Es ist schon fast
16:30, als er auf der langen Gerade, die zu Start und Ziel führt,
Levegh überrundet. Wenn ihm draußen am anderen Ende des
13,4-Kilometer-Kurses der Sprit ausgeht, ist sein Rennen vielleicht
vorbei, der Sieg sicher weg, und er wird zum Gespött seines Teams
und der gesamten Öffentlichkeit. Er MUSS an die Box. Die Boxen sind damals noch nicht durch eine Mauer von der eigentlichen Rennstrecke getrennt. Die Autos biegen recht abrupt zu ihren Garagen ab und ziehen genauso abrupt wieder auf die Piste zurück. Dazwischen wird getankt, Reifen werden gewechselt, Mechaniker wieseln um die Autos, Offizielle, Gendarmen - es ist ein gefährliches Durcheinander. Der junge Brite Lance Macklin war gerade an der Box und bringt seinen Austin-Healey auf die Strecke zurück. Er ist um einiges langsamer als die herankommende Spitzengruppe.
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Er schafft es nicht mehr. Der Mercedes trifft den Healey hinten links. Der versetzte Aufprall rettet Macklins Leben, aber er kostet viele andere: das Heck des Austin-Healey 100S wird für den Mercedes zur Abschussrampe. Selbst wenn die Zuschauer wüßten, was auf sie zukommt - sie stehen und sitzen so dichtgedrängt, dass es keinen Ausweg gibt. Um 16:28 schlägt der SLR in den Erdwall ein, fängt Feuer. Die Explosion tötet die ersten Zuschauer. Aus dem brennenden Torso lösen sich beim Aufprall große Trümmer. Als größtes Projektil schlägt der glühende Block von Motor und Getriebe in die Menschenmenge ein. Teile werden bis hinauf in die Tribüne geschleudert. Levegh ist bereits tot - er wird später als Letzter identifiziert. |
Der überrumpelte Macklin bremst, so gut er
kann, und zieht den Healey nach links. Damit schneidet er Levegh den
Weg ab. Dessen Geschwindigkeit ist zum Anhalten viel zu hoch,
außerdem kommt hinter ihm der noch schnellere Mercedes von
Fangio, der zur Überrundung ansetzt. Rechts die Boxen, die
Menschen, das Benzin - vor ihm der Healey, der Crash wäre der
sichere Tod - er hat nur eine Chance: nach links ziehen, zwischen den
Healey und den Erdwall, der die Zuschauer schützen soll; und
hoffen, dass für den großen 300SLR dort noch genügend
Platz ist. |
Während die 82 Toten und etlichen
Schwerverletzten geborgen werden, läuft das Rennen weiter.
Mercedes führt, aber in Stuttgart berät der Firmenvorstand.
Die ersten Opferzahlen werden bekannt - wenn Mercedes hier gewinnt, was
soll man dann der französischen Öffentlichkeit sagen? Um 2
Uhr früh zieht sich Mercedes-Benz aus den 24 Stunden von Le Mans
1955 zurück, der Weg ist frei für Jaguar, Mike Hawthorn und
Ivor Bueb gewinnen. Ihre Siegesfreude kommt manchen zu ausgelassen vor. Zum großen Sündenbock wird aber einer, der sich nicht mehr wehren kann, nämlich Levegh. Zu alt, sagt die Presse, überfordert. Gerüchte tauchen auf: die Unfalluntersuchungen seien auf Anweisung von "ganz oben" verschleppt worden - wegen der deutsch-französischen Beziehungen; der Mercedes sei allzu heftig explodiert, die Rennabteilung habe wegen illegalem Benzin fluchtartig die Strecke verlassen.
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Die Schuldfrage heute noch zu stellen, ist
sinnlos; jedenfalls hat der 11. Juni 1955 einige Leben zerstört,
aber in seiner Folge wahrscheinlich auch viele gerettet.